
Über die piemontesischen Alpen...
„Die Kulturlandschaft Alpen ist im Gerede. Je länger desto deutlicher zeigt sich ihr stilles Sterben. Der lebenshungrige Verbraucher unserer Tage füllt selbst die Todesspritzen, das Ergebnis seines Tuns wiegt schwerer von Tag zu Tag. Modisch gemusterte Urlaubsstädte, prall wie bunte Ballons und ebenso inhaltsleer, quellen aus den Planungsbüros. Sie schieben immer mehr alte Ortsbilder ins Fach der Ferienwerbung: Dörfer und Almen als dekorative Kuriosa, zwischen denen das Credo der technologisch-touristischen Übererschließung lärmt. Unterdessen sind Wasser und Luft vergiftet, degenerieren kranke Wälder zu Holzmüll, räumen Lawinen und Muren die Reste ab.“
Eberhard Neubronner im Vorwort aus seinem Wanderbuch "Der Weg – Vom Monte Rosa bis zum Mittelmeer", Verlag Berg & Tal, München 2006
Ich habe eine Weile überlegt, ob ich meine Beschreibung der piemontesischen Alpen mit diesem drastischen Zitat beginnen soll. Eberhard Neubronner schrieb diese Zeilen bereits im Jahr 1992. Ich habe mich schliesslich dafür entschieden, denn Neubronners Worte enthalten auch aus heutiger Sicht ganz viel Wahrheit. Eine schonungslose Wahrheit.
Im Gegensatz zu den touristisch bestens erschlossenen Nord- und Ostalpen ticken die Uhren in den piemontesischen Alpen jedoch seit jeher ein wenig anders. Warum ist das so? Während nach dem Zusammenbruch der traditionellen Selbstversorgerlandwirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Gebieten neue Erwerbsstrukturen in Industrie und Tourismus entstanden, blieben diese Entwicklungen in den piemontesischen Alpen weitestgehend aus. Es begann eine riesige Abwanderungswelle. Vor allem die jüngeren Bewohner suchten Glück und Wohlstand in den aufstrebenden Industriebetrieben der nahegelegenen Po-Ebene. Auch Fiat in Turin entfaltete hier eine besondere Sogwirkung, quasi jede zur Verfügung stehende Arbeitskraft fand dort seinerzeit Arbeit und Brot. Zurück blieben die Älteren, diese starben eines Tages, und so leerten sich im Laufe der Jahrzehnte die Bergtäler, unaufhaltsam und unerbittlich. Wo früher das Leben blühte, stehen heute viele verlassene Häuser oder aufgegebene Alpgebäude. Nicht wenige verfallen zu Ruinen, sie sind die stummen Zeugen einer einst mühsam von Menschenhand bewirtschafteten Kulturlandschaft. Nicht überall ist diese Entwicklung so dramatisch verlaufen, aber besonders in den talobersten Bergdörfern leben heute weniger als 10% der Bevölkerung von vor 80 bis 120 Jahren. Viele der alten Bauernhäuser dienen heute als Zweitwohnsitze, sie werden nur noch am Wochenende oder während der italienischen Ferien aufgesucht, meist von den Nachfahren der früheren Bewohner. Einige der besonders abgelegenen kleinen Siedlungen oder Weiler, vor allem die, die nicht über eine Fahrstrasse erreichbar sind, wurden endgültig aufgegeben und ihrem Schicksal überlassen. Manchenorts trifft man auf Geisterdörfer, in denen schon seit Jahrzehnten niemand mehr wohnt. Es stellt sich die Frage, wohin dieser Trend letztendlich führt. Alpentäler, in denen kaum noch jemand dauerhaft lebt, Bergdörfer, die nur noch aus Zweitwohnsitzen und Ferienhäusern bestehen, als unabwendbares Zukunftsszenario? Ist so eine Entwicklung erstrebenswert und nachhaltig? Wohl kaum.
Der Rückgang der Bergbevölkerung hält bis heute an. Es sterben immer noch mehr Menschen, als geboren werden. Zuzügler aus anderen Gegenden, die dauerhaft in den Tälern leben möchten, gibt es aufgrund von fehlenden Arbeitsplätzen und mangelnder Infrastruktur kaum. Wenn, dann sind es einige wenige Pensionäre, die nach dem Ende ihres Erwerbslebens in ihr Heimatdorf zurückkehren. Wer seinem Broterwerb nachgeht, muss nicht selten bis in die Städte der Tiefebene pendeln und täglich weite Anfahrtswege in Kauf nehmen. Von den Orten in Talnähe mit guter Erreichbarkeit ist das noch praktikabel, von den abgeschiedenen Bergdörfern in den obersten Talabschnitten jedoch meist nicht mehr. Junge Menschen, die eine Familie gründen möchten, haben es ganz besonders schwer und stehen oft vor unüberwindlichen strukturellen Hürden. Die Grundschulversorgung ist zwar in den meisten Tälern gesichert, weiterführende Schulen gibt es jedoch nur in den Städten am Alpenrand bzw. in der Po-Ebene. Auch aus diesem Grund leben immer weniger Kinder und junge Leute in den Alpentälern. Nahezu das gesamte wirtschaftliche und kulturelle Leben findet heute in den Städten und Metropolen der Tiefebene statt. Schuld an dieser Entwicklung hat auch die italienische Berggebietspolitik, in deren Hierarchie die Alpentäler seit jeher ein Schattendasein fristen, Ausnahmen sind die autonomen Regionen Valle d‘Aosta und Südtirol. Darüber hinaus ist Wandern oder Trekking in Italien eine weit weniger populäre Freizeitbeschäftigung als anderswo, und die wenigen, die dies tun, gehen meist in bekanntere Gebiete, wie beispielsweise in die Dolomiten oder ins Aostatal.
In den piemontesischen Alpen betritt man eine völlig andere Welt, es ist vielerorts stiller und einsamer als nördlich des Alpenhauptkamms. Die nahezu flächendeckende Entsiedelung ist allgegenwärtig. Zurück bleiben museale Dörfer, seit Jahrzehnten brachliegendes Kulturland verbuscht und verwandelt sich zurück in eine „Wildnis“. Scheinbar eine Idylle, aber nur auf den ersten Blick. Irgendwie fällt es schwer, pauschal zu idealisieren, die Abwanderung mit all seinen sozialökonomischen Konsequenzen für die piemontesischen Täler und seine verbliebenen Bewohner hat auch ihre Kehrseiten. Eine flächendeckende touristische Erschliessung wie in den Nord- und Ostalpen fand hier nie statt. Von grossräumigen talübergreifenden Skizentren mit all ihren Bau- und Umweltsünden wurde die Region, mit ganz wenigen Ausnahmen (Sestriere, Bardonecchia, Limone Piemonte), verschont. Natürlich findet man in vielen Orten eine Übernachtungsmöglichkeit in meist familiär geführten Unterkünften. In den kleinen Dörfern kennt noch einer den anderen, man trifft sich im Dorflokal bei einem Espresso oder Vino Rosso zum Schwatz. Es gibt noch die traditionellen inhabergeführten „Tante-Emma-Läden“, mit Regalen bis unter die Decke, wo man in sympathischem Ambiente lokale Produkte einkaufen kann. Und häufig sind diese hochwertiger und gleichzeitig günstiger als in so manchem riesigen Supermarkt in der Tiefebene. Trotz der geringen touristischen Erschliessung gibt es in jedem Tal ein grosses Netz an Wanderwegen und Hütten, um die sich meist lokale Alpenvereinssektionen kümmern. Man wandert in der Regel auf alten Alp- und Verbindungswegen und nicht selten trifft man unterwegs keine Menschenseele. Eines ist jedoch gewiss: Die Spuren der früheren Bergbewohner begleiten einen auf Schritt und Tritt. Jahrhundertealte Mauern, Häuser und Ställe, ehemalige Ackerbauterrassen, verwilderte Gärten, überwachsene Viehweiden, gepflasterte Bergwege. Vielerorts ist unübersehbar, wie die Menschen einst gelebt, geliebt und gearbeitet haben...
Weite Teile der piemontesischen Alpen sind in Deutschland wenig bekannt. Positive Ausnahmen sind das Valle Maira in der Provinz Cuneo und die Etappenorte der GTA. Die Grande Traversata delle Alpi (Die grosse Alpendurchquerung) ist ein Fernwanderweg durch die piemontesischen Alpentäler, der in 65 Etappen von der Schweizer Grenze bis zum Mittelmeer führt. Im Gegensatz zu einigen Weitwanderwegen in den Nordalpen ist die Grande Traversata kein reiner Höhenweg, sie verläuft in der Regel immer von einem Tal über einen hohen Pass in das nächste Paralleltal. Dadurch, dass man anstatt in höher gelegenen Hütten in bereits vorhandenen Strukturen in den Bergdörfern übernachtet, bleiben die Erträge vor Ort bei den Einheimischen. Mit dieser Idee der Wegführung sichert man Arbeitsplätze in einer von Abwanderung bedrohten Region. Ihren Erfolg verdankt die GTA dem Engagement des Erlanger Geografieprofessors Werner Bätzing. Seine beiden informativen Wanderbücher (> siehe hier sowie hier), eines für den nördlichen, eines für den südlichen Abschnitt, haben den Weg im deutschsprachigen Raum in einschlägigen Kreisen bekanntgemacht. Die Grande Traversata und der nach ähnlichen Prinzipien angelegte Maira-Rundweg „Percorsi Occitani“ sind Musterbeispiele für einen gelungenen, umweltverträglichen und nachhaltigen Tourismus. Beide Wege erfahren bis heute grossen Zuspruch, der aber dennoch so überschaubar ist, dass man keinen umweltschädigenden Massentourismus befürchten muss. Es ist der Zuspruch, den die Region auch abseits der beiden populären Weitwanderwege ganz dringend braucht und verdient. In den piemontesischen Alpen wandert man durch eine ursprüngliche Berg- und Kulturlandschaft. Einprägsam und bereichernd sind auch die Begegnungen mit den Einheimischen, in urigen und unverbauten Dörfern, die so original und authentisch sind, wie kaum anderswo im Alpenraum. Man taucht ein in einen anderen, bisweilen ungewohnten und fremden Lebensrhythmus, welcher der modernen Gesellschaft in ihrem schnelllebigen, globalisierten und oft profitorientierten Alltag abhanden gekommen zu sein scheint. Diese faszinierende Alpenregion möchte ich interessierten und wanderbegeisterten Menschen näherbringen, dies ist gleichzeitig meine Motivation und der Leitgedanke meiner Tätigkeit als Wanderführer im Piemont.
In diesem Sinne danke ich allen, die bis hierhin geduldig meinen Text gelesen haben, für ihr Interesse. Herzlich willkommen auf meiner Seite!
Weitere Informationen bei den Tourenbeschreibungen der Tages- und Mehrtageswanderungen in den Valli di Lanzo.








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Nur wo du zu Fuss warst, bist du auch wirklich gewesen.
Johann Wolfgang von Goethe