Barrouard
Lange und stramme Gipfeltour auf meist einfach zu begehenden Wegen im oberen Val Grande di Lanzo, der erste Abschnitt ist identisch mit der Tour zu den Laghi di Sagnasse.
Rivotti (1452 m), der Ausgangspunkt dieser Tour, ist ein abgelegener Ortsteil von Groscavallo auf der Sonnenseite des Val Grande di Lanzo. Der wunderschön gelegene Ort besteht aus mehreren verstreuten Häusergruppen, mitten auf einer Wiese steht die historische Cappella dei Rivotti. Historischen Überlieferungen zufolge wurde das Gotteshaus um das Jahr 1590 erbaut, auffällig und besonders ist hier, dass Kirchturm und Kirchenschiff baulich voneinander getrennt errichtet wurden. Die Fahrstrasse endet bei dem Weiler Case Giordano (1489 m), in den letzten Jahren wurden dort einige Anwesen geschmackvoll und mit grossem Aufwand renoviert. Rivotti ist in den Wintermonaten nicht mehr dauerhaft bewohnt, viele der Häuser werden nur noch als Wochenend- oder Feriendomizil genutzt, meist von den Nachfahren der früheren Bewohner.
Abmarsch, 1400 Höhenmeter wollen überwunden werden. Die nächsten fünf Stunden kennen nur eine Richtung: nach oben, die Beine sind hoffentlich motiviert, trotz der frühen Stunde. Die Häuser von Rivotti verschwimmen nach wenigen Metern in der Dunkelheit, die funkelnden Sterne am Himmel versprechen einen schönen Gipfeltag. Die Luft ist klar und angenehm kühl, die Wiesen sind noch feucht vom Morgentau. Wer hoch hinaus will, sollte sich zeitig auf den Weg machen, am besten noch vor Sonnenaufgang, je früher desto besser. Ansonsten erwartet einen ein Wettlauf mit den Wolken, die Gegend um Barrouard ist eine Nebelecke, besonders an heissen Sommertagen. Bei einer stabilen Hochdruckwetterlage ist es frühmorgens meist klar, dann bilden sich in den Kammlagen der Berge bereits ab den Vormittagsstunden die ersten Quellwolken, bedingt durch die feuchtwarmen Luftmassen, die aus der nur 30 km entfernten und im Sommer schwülheissen Tiefebene aufsteigen. Daraus werden im Laufe des Tages riesige Wolkenberge, die an den Gipfeln und Graten stauen. Wer da mittendrin ist, sieht vor lauter Nebel die Hand nicht mehr vor Augen. Am Abend, wenn es kühler wird, lösen sich die Wolken meist wieder auf und die Nacht wird sternenklar. Am nächsten Tag geht das gleiche Spiel von vorne los. Wer Glück hat, erwischt einen Tag mit Nordwind, diese sind zwar im Sommer vergleichsweise selten, aber dann ist der Himmel blitzblank geputzt, von morgens bis abends. Beste Wetterbedingungen für eine Besteigung des Barrouard hat man in der Regel im Frühsommer und im September und Oktober.
Von Rivotti folgt man den Markierungen des Fernwanderwegs GTA, der Asphalt endet nach wenigen Minuten. Auf einem grasigen breiten Weg geht es hinauf zu der von Mai bis September bewohnten Alp von Crest (1534 m). Hier schläft noch alles, nur den aufmerksamen Hütehunden entgeht der frühmorgendliche Besuch nicht. Wenige Meter weiter oben überquert man die parallel verlaufende Fahrstrasse und steigt weiter aufwärts zu den hübsch renovierten Häusern von Balmes (1604 m). An dieser Stelle erreicht man den sogenannten Sentiero Balcone, ein wunderschöner Höhenweg auf der Sonnenseite des Val Grande di Lanzo, der erst 6 km weiter westlich bei der Gias Nuovo Fontane endet. Er verläuft auf einer unbefestigten und für den öffentlichen Verkehr gesperrten Alpstrasse, die gleichzeitig die Zufahrt zu den Alpgebieten oberhalb von Pialpetta, Groscavallo und Forno ist. Auf dem schmalen Strässchen kann man in der nächsten Stunde gemütlich vor sich hintraben, der Weg steigt nur anfangs nur sanft an, mal im Wald, mal zwischen verstreuten Birken. Nach einer Weile erreicht man offenes Gelände mit den Alpgebäuden von Mojes (1705 m), steinerne Erinnungen an vergangene Zeiten. Mojes liegt am Rand des Vallone dell‘Alpetta, ein idyllisches kleines Seitental mit saftigen Wiesen soweit das Auge reicht. Die Hütten und Ställe sind mittlerweile aufgegeben und dem Verfall preisgegeben. Von den umliegenden Weiden ertönt jedoch Glockengebimmel, auf der nur wenige Gehminuten entfernten Gias Primavera und der etwas oberhalb befindlichen Gias Alpetta werden noch Kühe, Schafe und Ziegen gehütet, so wie seit vielen Generationen. In den Sommermonaten ist die ganze Familie hier oben, eine intakte und friedliche Alpenwelt inmitten der Einsamkeit.
Die Nacht weicht dem Tag, der Streifen am Horizont wird immer grösser und heller, am Himmelszelt tümmeln sich rosa Schleierwolken. Es gibt nichts schöneres, als einfach so in den Tag hineinzulaufen. Über einige Serpentinen windet sich der Sentiero Balcone weiter talaufwärts, das Panorama wird immer spektakulärer. Vorhang auf, die Sonne kommt hinter dem Horizont hervor, die Berge scheinen zu brennen. Mit jedem Schritt nähert man sich dem Alpenhauptkamm mit der Gipfelkette zwischen der Uja di Ciamarella (3676 m) und der Punta Girard (3262 m), eine eindrückliche Kulisse mit vielen wilden Graten und Türmen. Die steilen Wände sind zerfurcht von steilen Rinnen, riesigen Schuttfeldern und steinigen Moränen. Mittendrin die spärlichen Überreste der beiden Mulinetgletscher, gezeichnet von immer heisseren Sommern und immer mehr schneearmen Wintern. Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden die Eisflächen vermutlich in wenigen Jahren ganz aus dem Landschaftsbild verschwunden sein. Der Weg wird flacher, die Hänge sind übersät von Geröllfeldern, ringsherum liegen riesige Brocken in der Landschaft rum. Dann ein besonders markanter Felsklotz, fast wie die Miniatur eines Berges, so gross wie ein Einfamilienhaus und wer weiss wie viele Tonnen schwer, vermutlich bereits vor Jahrtausenden zu Tal gestürzt. In der Nähe plätschert der Rio Sagnasse vor sich hin, überall fliessen kleine Rinnsale. Im Frühsommer blühen hier Alpen-Kuhschellen, Enzian, Schlangen-Knöterich und Trollblumen fleissig um die Wette, ein farbenfrohes Stelldichein der Natur. Einige Kurven weiter die Hütten der Gias Crest (1880 m), spartanische Behausungen für Mensch und Tier, vor Jahrhunderten aus fein säuberlich aufeinandergeschichteten Steinen errichtet. Wo einst das Kaminfeuer brannte, liegen heute Trümmer und morsche Dachbalken, die unter der winterlichen Schneelast zusammengebrochen sind. Das Schicksal dieser Alp ist bereits besiegelt, einer der Ställe ist noch intakt, von den anderen Gebäuden stehen nur noch die Grundmauern. Wenig später erreicht man den Rand einer weiten Alphochfläche, nur einen Steinwurf entfernt die Hütten der in den Sommermonaten bewirtschafteten Alpe Pià Nou (1853 m). Saftige Weiden und glückliche Kühe soweit das Auge reicht, das Gebimmel der Glocken klingt wie Musik in den Ohren.
In der nächsten Kurve verlässt man bei einem Wegweiser das Alpsträsschen bzw. den Sentiero Balcone und steigt auf einem ausgetretenen und gut markierten Alpweg einen grasigen Hang hinauf. Nach einer halben Stunde ist dieser überwunden, vor einem eine kleine Verebnungsfläche mit der Gias dei Laghi (2076 m), eine handvoll uralter Hütten, dazwischen eingetrockneter Mist und eine Viehtränke. Die Alp ist nur wenige Wochen im Jahr bestossen, meistens im August oder September, dann grasen auf den umliegenden Weiden einige Kühe und Ziegen. Die junge Hirtin grüsst freundlich, sie schmeisst hier oben den Laden, mit Kind und Kegel und einigen Vierbeinern. Mitte September, pünktlich zum Schulbeginn, treibt sie ihre Tiere wieder hinab ins Tal auf den heimischen Hof. Zwischen den Hütten und Ställen wuchern riesige Teppiche von Alpenampfer, eine dominierende Pflanzengattung der sogenannten Lägerflur, die nur auf stark nitrathaltigen Böden wächst. Diese entstehen durch Überdüngung von Weidetieren wie Kühe und Rinder, die sich meist über einen sehr langen Zeitraum regelmässig am selben Ort aufgehalten haben. Lägerfluren findet man daher recht häufig in der Umgebung von Alpgebäuden, auch noch Jahrzehnte nach der Nutzungsaufgabe. Weitere typische Pflanzenarten einer Lägerflur sind Brennnesseln, Alpen-Greiskraut und Alpendost. Unweit der Alp befinden sich die Laghi di Sagnasse, zwei malerische Bergseen, einer schöner als der andere. Sehr lohnend ist ein kurzer Abstecher zum oberen See, ein lauschiges Plätzchen mit grossartigem Panorama. Um dort hinzugelangen folgt man einfach der Wegspur bis an den nördlichen Rand der Weiden.
Der Weiterweg ist weder markiert noch beschildert. Von der Gias dei Laghi folgt man den undeutlichen Pfadspuren Richtung Westen, die sich hier und da im hohen Gras verlieren, aber die Wegführung ist dank einiger Steinmänner eindeutig. Nach einem kurzen Anstieg kommt man zu einer weiteren kleinen Alphochfläche mit den Ruinen der Gias Giom (2191 m). Ein paar dicht aneinander gebaute Hütten und Ställe ducken sich an den Hang, schön in Reih und Glied. Ringsherum liegen mächtige Felsbrocken in der Landschaft herum, steinerne Harmonie an einem gottverlassenen Ort. Jahrhundertelang wurden hier Sommer für Sommer Tiere gehütet, Käse gemacht und Heu gesenst. Heute stehen die Uhren still. Endzeitstimmung, an den Gebäuden nagt der Zahn der Zeit, der Verfall ist unaufhaltsam, eines Tages werden sie ganz daniederliegen. Was zurückbleibt, sind die Überreste einer gestorbenen Zivilisation. In einem der Ställe stehen noch ein paar zurückgelassene Arbeitsgeräte, ein uralter Melkschemel, eine Mistgabel, ein hölzerner Rechen und leere Weinflaschen. Die von Steinen übersäten Weiden sind durchzogen von Mäuerchen, mittendrin eine verrostete Badewanne, aus der einst das Vieh trank. Es ist der Charme des Vergänglichen, der solche Orte liebenswert macht.
Jenseits der Alp verliert sich die Wegspur im Nichts, keine Markierungen und keine Steinmännchen weit und breit. Man hält Kurs auf den westlich gelegenen markanten Sattel des Colle Giom (2219 m, in den einschlägigen Karten nicht eingezeichnet). Am besten man quert einfach den Hang bis ans Ende der Weiden, dort folgt man der nun deutlich sichtbaren Pfadspur, die sich zwischen Alpenrosen und allerlei Gestrüpp in einem weiten Bogen auf den Pass schlängelt. An dieser Stelle erreicht man den Südgrat des Barrouard. Eine weitere Wegmarke ist geschafft. Augen auf und Durchatmen, die Aussicht ist bereits von hier gigantisch, unmittelbar gegenüber baut sich die steile Ostwand des Alpenhauptkaum vor einem auf, eine Festung aus Stein. Ein einsames und schwer zugängliches Paradies für Alpinisten, für Normalsterbliche unüberwindlich. Über den Kamm verläuft die Staatsgrenze, dahinter liegt Frankreich, nur drei oder vier Kilometer Luftlinie entfernt und gleichzeitig eine halbe Ewigkeit, wer mit dem Auto dort hin will, muss zuvor knapp 200 km zurückliegen. Weiter gehts, die Sonne scheint von einem stahlblauen Himmel, Vorfreude macht sich breit. Die Beine sind hoffentlich noch lauffreudig, denn die Hauptspeise kommt ganz zum Schluss. Und sie dauert, das Gipfelziel scheint zum Greifen nah, aber die verbleibenden 640 Höhenmeter kommen einem wie eine Ewigkeit vor. Zur Belohnung gibt es bei jedem Schritt mehr Aussicht. Der verbleibende Anstieg über den grasigen Südgrat ist mit Steinmännern markiert und nicht zu verfehlen. Weiter oben wird es steiniger, an einer Stelle ist Trittsicherheit erforderlich, ansonsten gibt es keinerlei Schwierigkeiten. Nach zweieinhalb Stunden erreicht man schliesslich den Gipfel des Barrouard (2858 m). Die Beine sind müde, nach dem zähen Aufstieg spürt man Befreiung und Erleichterung, der Anblick des stählernen Gipfelkreuzes kommt einem wie ein Geschenk vor. Über einem ist nur noch der Himmel, immer noch makellos und blitzblank geputzt, nun gibt er all das frei, wonach man sich in den letzten Stunden schwitzend gesehnt hat. Das Panorama ist umfassend und eindrücklich, eine Vision wie aus dem Bilderbuch. Zwei Täler liegen einem zu Füssen, im Süden das Val Grande di Lanzo mit all seinen Bergen, im Norden das Valle Orco. Unten im Tal ruht der Lago di Dres in einer grasigen Mulde friedlich vor sich hin, darüber erheben sich majestätisch Gran Paradiso (4061 m), Ciarforon (3640 m), Becca di Monciair (3554 m), Denti di Broglio (3454 m) und weitere namhafte Gipfel. Unmittelbar gegenüber, zum Greifen nah, die Gruppe der Levanne mit der gewaltigen Levanna Orientale (3555 m). Richtung Osten blickt man bei klarem Wetter bis in die piemontesische Tiefebene. Dort unten tummelt sich die Zivilisation, mit all ihrem Lärm, Verkehr und Gestank, die in den Himmel betonierten Hochhäuser der Millionenmetropole von Turin verschwimmen allmählich im Dunst. Hier oben ist es friedlich und still, es ist bereichernd, all das nur aus der Ferne zu beobachten.
Der Abstieg vom Gipfel verläuft auf dem Aufstiegsweg.
- Juni bis Oktober
- T1 auf dem Sentiero Balcone
T2/T3 auf allen anderen Wegen - 8,5 Std.
- Höhenunterschied: 1406 m
- Ausgangs- und Endpunkt: Rivotti (1452 m, Frazione di Groscavallo)
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