Alboni - Mea - Biollè - Frassa
Gemütliche Halbtagestour auf bequem zu begehenden Wegen auf der Sonnenseite des Val Grande di Lanzo. Die Wanderung kann man beliebig abkürzen oder verlängern bzw. mit anderen Touren aus der Umgebung kombinieren.
Vor dem Aufbruch lohnt zunächst ein Spaziergang über die Hochebene von Alboni mit seinen zahlreichen hübsch renovierten alten Bauernhäusern und der sehenswerten Cappella di San Grato. Alboni ist eine aus mehreren Häusergruppen bestehende Siedlung auf einer aussichtsreichen Hochfläche auf der Sonnenseite des Val Grande di Lanzo. Eine einzelne Häusergruppe nennt man hier Borgata, eine in Norditalien lokal übliche Bezeichnung für einen kleinen Ortsteil oder Weiler. Auf der Hochebene befinden sich die Weiler Grand‘Albone, Albone di mezzo mit dem Kirchlein Cappella di San Grato und Campo della Losa di sotto, ein wenig abseits am Waldrand die Häuser von Crest, wenige Gehminuten weiter oberhalb die Gebäudegruppen von Campo della Losa di mezzo, Campo della Losa di sopra und Castello. Zusammengefasst sind es „gli Alboni“, frei ins Deutsche übersetzt „die Alboni“ (Alboni ist im Italienischen der Plural von Albone). Alboni war einst ganzjährig bewohnt, in jedem Haus lebte eine Familie mit zwei oder drei Generationen unter einem Dach.
Bis zum Jahr 1927 war Alboni ein Ortsteil der damals existierenden Gemeinde Bonzo im Talboden des Val Grande, diese gehört heute zur Gemeinde Groscavallo. Eine Fahrstrasse gab es seinerzeit noch nicht. Von Bonzo führte eine breite und teils gepflasterte Mulattiera (= Saumweg oder Maultierweg) durch den Wald hinauf in die Siedlung, auf der über viele Generationen alle Waren und Güter transportiert wurden, meist auf dem Rücken von Eseln oder Pferden. Auf dieser Mulattiera gingen auch die Kinder von Alboni morgens nach Bonzo in die Schule, nachmittags liefen sie den steilen und beschwerlichen Weg wieder zurück nach Hause. 400 Höhenmeter rauf und runter, Tag für Tag, sommers wie winters, bei jedem Wetter. Aus heutiger Sicht schier unvorstellbare Bedingungen, die jedoch seinerzeit in den abgelegenen Bergdörfern zum normalen Lebensalltag gehörten. Nach dem Zusammenbruch der Berglandwirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg wanderten viele Bewohner in die die Städte der nahen Tiefebene ab und fanden in den aufstrebenden Industriebetrieben einen neuen Broterwerb, mit sicherem Einkommen und geregelten Arbeitszeiten. Der Nachfrage nach Arbeitskräften war damals enorm. Diejenigen, die blieben, waren meist die Älteren, diese starben eines Tages, seitdem lebt in Alboni niemand mehr dauerhaft. Bis in die 1990er Jahre wurden viele verlassene Anwesen ihrem Schicksal überlassen und verfielen im Laufe der Zeit. Vor etwa 25 Jahren setzte eine Trendwende ein, heute sind fast alle Häuser von Alboni teils aufwendig und liebevoll renoviert und werden als Wochenend- oder Feriendomizil genutzt, meist von den Nachfahren der früheren Bewohner. Der Ort hat sich im Laufe der Jahre zu einem wahren Schmuckstück entwickelt, im Gegensatz zu vielen anderen Örtlichkeiten in den Alpen in vergleichbar attraktiver Lage wurde Alboni jedoch bis heute nicht für touristische Zwecke erschlossen. Man erreicht die Siedlung nur über eine schmale und kehrenreiche Zufahrtsstrasse, die im Winter nicht regelmässig geräumt wird.
Die Halbtageswanderung verläuft überwiegend auf alten Alpwegen und folgt einem Teilstück des sogenannten Sentiero Balcone. Hinter dem überdachten Brunnen am Ende der Fahrstrasse folgt man den Wegweisern Richtung Mea und Frassa. Nach wenigen Minuten erreicht man die Häusergruppe von Campo della Losa di mezzo (1412 m), wenig später die von Campo della Losa di sopra (1437 m). Nach einem kurzen Stück durch lauschigen Buchenwald kommt man zur Lichtung von Benne (1466 m, im lokalen Dialekt auch Benes genannt), eine kleiner Weiler, der nur aus drei renovierten Gebäuden besteht. Der Weg mündet in ein unbefestigtes Alpsträsschen, auf dem man in einer Viertelstunde nach Mea (1526 m) geht. Die ehemalige Alpsiedlung befindet sich am Rand eines aussichtsreichen Geländerückens am Fuss des Bec di Mea (1546 m), ein markanter und bei Sportkletterern beliebter Felsbuckel. Ein grösseres Anwesen wurde vor vielen Jahren neu aufgebaut und hübsch hergerichtet, die anderen Gebäude liegen grösstenteils in Ruinen. Ein malerischer Ort mit einer ganz besonderen Atmosphäre. Einsamkeit kann so schön sein, das atemberaubende Panorama sowieso.
Von Mea geht es wenige Höhenmeter abwärts bis zu einer hölzernen Brücke, die über den Rio Unghiasse führt. Schäumendes Gewässer und viel Getöse, ringsherum riesige Felsbrocken. Etwas unterhalb des Wasserfalls, unweit der Hütten von Mansonetta, befinden sich einige herrliche Badegumpen, die zu einer eiskalten Erfrischung einladen. Jenseits des Bergbaches steigt der Weg nun im Buchenwald an, am Wegesrand die beiden Alpgebäude von La Foggi (1541 m), im Gelände und in den einschlägigen Karten fälschlicherweise als Mansonetta bezeichnet. Weiter hinauf nach Biollè (1598 m), eine heute aufgegebene kleine Temporärsiedlung auf einer grossen Lichtung. Einige der verstreuten Hütten und Ställe liegen bereits in Ruinen, das umliegende Kulturland liegt brach und verbuscht im Laufe der Jahre infolge der Nichtnutzung. Eine vergessene Welt. Man blickt auf morsches Gebälk, was eines Tages unter der Last der schweren Dachplatten zusammenbricht. Die Stille ist wohltuend und macht zugleich nachdenklich.
Der Weiterweg verschwindet zunächst wieder im Wald. Nach einer felsigen Geländestufe, die auf einer Treppe überwunden wird, überquert man einen kleinen Seitenbach. In einigem Auf und Ab erreicht man schliesslich den heute verlassenen Ort Frassa (1601 m) mit seiner kleinen Kirchenkapelle, die auf einem Felsvorsprung unmittelbar am Abgrund steht. Vor hundert Jahren blühte hier das Leben. Auch Frassa ist eine sogenannte Temporärsiedlung und war bis vom Frühjahr bis zum Herbst von zahlreichen Familien dauerhaft bewohnt, die von der Berglandwirtschaft lebten. Heute steht man in einem Geisterdorf, was von der immer näher rückenden üppigen Vegetation bedrängt wird. Die meisten der Häuser und Ställe sind dem Verfall preisgegeben. Die in der Nähe befindlichen einst mühsam kultivierten Ackerbauterrassen sind völlig verwildert, die umliegenden Viehweiden sind bereits von Gestrüpp und vielen Birken überwuchert und werden eines Tages völlig im Wald verschwunden sein.
Als Temporärsiedlung (auch Sommersiedlung oder Maiensäß genannt) bezeichnet man eine Häusergruppe oder einen kleinen Weiler, welcher nur von Frühjahr bis Herbst (temporär) dauerhaft bewohnt ist. Meist im Mai oder Juni (je nach Höhenlage der Siedlung) zogen die Bergbauern mit ihren Tieren von der Dauersiedlung im Talboden in die Temporärsiedlung und bewirtschafteten dort das umliegende Kulturland. Im Hochsommer stiegen Teile der Familie dann weiter auf in noch höher gelegene Alpgebiete jenseits der Baumgrenze, wo das Vieh ideale Weidebedingungen vorfindet, während andere in der Nähe der Dauersiedlung die Feldarbeit erledigten. Im September ging es wieder runter und man lebte nochmals vorübergehend in der Temporärsiedlung, bevor man im Verlauf des Oktobers endgültig in die Dauersiedlung zurückkehrte und dort den Winter verbrachte. Dieses sogenannte dreistufige Nutzungssystem war bis zum Zusammenbruch der Berglandwirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg auf der Alpensüdseite weit verbreitet, es existiert bis heute in Reliktform. Das bedeutet, dass einige der noch in den Tälern verbliebenen Bergbauern auch heute noch mit Ihren Kühen, Rindern, Schafen und Ziegen zwischen den einzelnen Höhenstockwerken hin- und herziehen, der früher parallel betriebene Ackerbau wurde jedoch bereits ab den 1950er/1960er Jahren flächendeckend eingestellt.
Der Rückweg nach Alboni verläuft auf dem gleichen Weg.
- März bis November
- T2
- 3 Std.
- Höhenunterschied: ca. 300 m mit Gegenanstiegen
- Ausgangs- und Endpunkt: Alboni (Frazione di Groscavallo, 1390 m), Zufahrt von Pialpetta über eine schmale und kehrenreiche Bergstrasse
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