Viù - Get - Cialmetta
Von der Zivilisation in die Einsamkeit... so in etwa könnte man den Charakter dieser Tour mit wenigen Worten beschreiben. Eine Rundwanderung durch eine vergessene Welt. Eine gute Karte sollte man dabeihaben, und gelegentlich ein wenig Spürsinn, der Aufstieg verläuft über weite Strecken auf unmarkierten alten Pfaden und Verbindungswegen.
Viù ist der Hauptort (ital. Capoluogo) der gleichnamigen Gemeinde und gleichzeitig der grösste und bevölkerungsreichste Ort des ganzen Tals. Die Gemeinde Viù hat heute 1020 Einwohner (Stand 2019), ein Grossteil davon leben im Hauptort selbst oder in den gut erreichbaren Ortsteilen im Talboden. Um das Jahr 1900 waren es noch 5000. Auch Viù ist von der Abwanderung nach dem Zusammenbruch der Berglandwirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg stark betroffen, im Gemeindehauptort ist diese Entwicklung weniger dramatisch verlaufen als in den unzähligen weit verstreuten kleinen Ortsteilen, wo heute ein Grossteil der Häuser leerstehen. Manche werden noch instandgehalten und am Wochenende oder den Ferien aufgesucht, meist von den Nachfahren der früheren Bergbewohner. Andere wiederum sind für immer verlassen und verfallen im Laufe der Zeit. In besonders abgelegenen kleinen Weilern lebt heute überhaupt niemand mehr dauerhaft. Von Viù bis in die Kleinstadt Lanzo-Torinese am Alpenrand sind es auf der kurvenreichen Talstrasse 15 km, Arbeitsplätze in Industrie, Handwerk oder Dienstleistung gibt es vor Ort bis auf den lokalen Einzelhandel und einige Kleinbetriebe nahezu keine. Die meisten Einwohner, die einem Broterwerb nachgehen, sind somit gezwungen zu pendeln, nach Lanzo oder in weiter entfernte Städte in der Po-Ebene.
Das Dorf macht einen sympathischen Eindruck, ringsherum viel alte Bausubstanz und ein intaktes Ortsbild. Nahezu das gesamte Leben spielt sich auf der Via Roma und auf der Piazza Vittorio Veneto ab. Hier gibt es Lebensmittelgeschäfte, einen Tabakladen, eine Eisdiele, Bars und Restaurants. In den zahllosen verwinkelten Gassen gibt es viel zu entdecken, oder man setzt sich einen Moment in eines der Strassencafès und beobachtet das lebendige Treiben auf den Strassen und Plätzen. Sehr lohnend ist ein kurzer Spaziergang zur Chiesa Parrocchiale di San Martino Vescovo. Die dreischiffige Kirche ist die grösste der drei Lanzo-Täler, sie befindet sich auf einer kleinen Anhöhe über der Piazza Luigi Cibrario, von hier hat man einen schönen Blick auf das Dorf und das Valle di Viù. Im Jahre 1011 wurde die Pfarrei erstmals urkundlich erwähnt, im Laufe der Jahrhunderte wurde die Kirche mehrfach erweitert und umgebaut, seit dem Jahr 1781 besteht sie in ihrer heutigen Form. Auffällig in Viù sind die zahlreichen verstreuten Gründerzeitvillen, die sich etwas ausserhalb des Ortskerns oder auf den sonnigen Hängen über dem Dorf befinden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Ort ein beliebtes Ausflugs- und Urlaubsziel des Turiner Adels. Nach dem zweiten Weltkrieg lebte diese frühe Form des Tourismus jedoch nicht mehr auf, viele Villen verfielen im Laufe der Zeit. Erwähnenswert ist die historische Villa Franchetti mit ihrem angrenzenden Park, sie ist bis heute die spektakulärste und prächtigste Residenz in Viù. Das prunkvolle Anwesen wurde 1861 von Baron Raimondo Franchetti Senior (1829-1905) für seine Frau Sara Luisa Rothschild erbaut und erinnert vom Baustil an die grossen Schweizer Chalets (grosser Holzbalkon, sehr langes Dach mit geringer Neigung). Es beherbergte einige illustre Persönlichkeiten der damaligen Zeit und ist heute in Privatbesitz.
Von der Piazza Vittorio Veneto folgt man den Wegweisern Richtung Colle della Cialmetta und Uja di Calcante und geht zunächst durch die engen Gassen bis zum oberen Ortsende, von dort auf einer langen Treppe den Hang hinauf, von hier hat man einen phantastischen Blick auf die Kirche von Viù. Weiter oben erreicht man den Ortsteil Molartissier, die Mulattiera (= Saumweg oder Maultierweg) mündet in eine asphaltierte Strasse, auf dieser weiter bergwärts bis zu einer Linkskehre. Hier verlässt man den markierten Weg und folgt dem Strassenverlauf bis zu den Häusern von Laiolo. Wenig später zweigt rechts eine unmarkierte Mulattiera ab, auf dieser hinauf nach Cavalera, ein kleiner Weiler, der nur aus wenigen Häusern besteht. Ein grösserer Bauernhof wird noch bewohnt und bewirtschaftet, auf den saftigen grünen Weiden grasen Kühe, Schafe und Ziegen, ein lauschiger Ort, der zum Verweilen einlädt. Die spärliche Pfadspur führt über grasige Matten zum Waldrand, weiter durch eine breite Lichtung bis zu einem orange gestrichenen Haus, von dort erreicht man in Kürze die untere Gebäudegruppe von Corgnolero. Hier scheint schon seit langer Zeit niemand mehr zu leben, von den Wänden bröckelt der Putz, der Wind pfeift durchs Gebälk. Der Charme des Vergänglichen, die Häuser und Ställe haben schon bessere Zeiten gesehen. Wenige Meter oberhalb mündet der Weg in die Fahrstrasse, die von Viù nach Polpresa führt. Auf dieser ca. 300 m bis zu einer Linkskehre, hier geradeaus weiter, das schmale Asphaltsträsschen führt hinauf nach Get (975 m). Das abgeschiedene Nest besteht nur aus einer handvoll Häuser, die noch instandgehalten werden und als Wochenenddomizil genutzt werden. Eines der Anwesen ist sogar dauerhaft bewohnt, hier haben sich vor einiger Zeit zivilisationsmüde Aussteiger niedergelassen. Ein heimeliger und gastlicher Ort, wo man sich sofort wohlfühlt. Vor einem der jahrhundertealten Häuser flattert die Wäsche im Wind, auf einem Treppchen stehen Blumentöpfe, ein Buggy und eine Schaukel verraten, dass hier auch Kinder zuhause sind. In einer schmalen Gasse hängen hölzerne Wagenräder, uraltes Werkzeug, rostige Ketten, Schuhe mit genagelten Holzsohlen und zahlreiche andere historische Arbeitsgeräte an den Wänden. Ein kleines Freilichtmuseum am Ende der Welt, einprägsam und bereichernd. Ein älterer Herr, der gerade Brennholz sägt, fragt interessiert, was einen Deutschen dazu bewegt, hierher zu kommen. Die Antwort lautet: Reine Neugier, der Ort sah aus der Ferne einfach einladend aus, hier konnte man nicht einfach vorbeilaufen, ohne sich zuvor ein wenig näher umzuschauen. Man taucht ein in eine längst vergangene Zeit, ob sie besser war als die heutige? Vielleicht authentischer und eine Stück weit menschlicher, trotz der seinerzeit harten Lebensbedingungen. Strassen, Autos, elektrischen Strom, Internet? Gab es alles nicht. Man schuftete von frühmorgens bis spätabends, nur um satt zu werden. Eine funktionierende Dorfgemeinschaft war neben dem fruchtbaren Land und dem eigenen Dach über dem Kopf eine der Lebensgrundlagen der einstigen Bergbewohner.
Nach so vielen schönen Eindrücken und Gedanken wird es Zeit für den Weiterweg. Jenseits des Dorfes geht das Asphaltsträsschen in einen unbefestigten Fahrweg über, dieser verschwindet alsbald im dichten Buchenwald. Sanft ansteigend geht es weiter aufwärts, nach einer Weile erreicht man wieder offenes Terrain. In einer Kurve verlässt man das Fahrsträsschen und geht hinauf zu einem bereits sichtbaren Stall. Erst dort sieht man, wo man tatsächlich angekommen ist. Vor einem die grosse Alpsiedlung von Brusatere (1130 m), die sich in aussichtsreicher Lage auf einem langezogenen Geländerücken befindet. Hier stehen die Uhren still. Leere Ställe, morsches Gebälk, einige der Alphütten liegen bereits danieder, die Trümmer werden von Brombeergestrüpp in die Zange genommen. Einige wenige sind noch intakt und gepflegt und werden vermutlich als Wochenend- oder Ferienhäuschen genutzt. Jahrhundertelang wurden hier in den Sommermonaten Kühe, Rinder, Schafe und Ziegen hinaufgetrieben, die Milch wurde von den Bergbauern zu Käse und Butter verarbeitet. Ein Teil der einst gerodeten Weideflächen in der Umgebung verbuschen und sind von Sträuchern und Birken überwachsen, eines Tages werden sie ganz im Wald verschwunden sein. Ein stimmungsvoller Ort mit einer ganz besonderen Atmosphäre, eine Mischung aus Idylle und trauriger Realität.
Bei den obersten Hütten mündet der Pfad wieder in die unbefestigte Fahrstrasse, auf dieser geht es nun kurz bergab bis zur nächsten Kehre, an dieser Stelle ist eine abschliessbare Eisenkette über den Weg gespannt. Hier geht man geradeaus, der Weg endet nach wenigen Metern bei einer weiteren Eisenkette. Hier beginnt ein stellenweise kaum noch zu erkennender Pfad, auf dem man sich mühsam den steilen Buchenwald hinaufquält, im Herbst stapft man hier durch gigantische Laubmassen, vereinzelte rot/weisse Markierungen helfen bei der Orientierung. Nach einer Dreiviertelstunde ist die Schinderei überstanden und man erreicht den Colle della Cialmetta (1303 m) mit der Cappella di San Michele Arcangelo (1303 m). Die sehenswerte kleine Kirchenkapelle wurde von Einheimischen in ehrenamtlicher Arbeit aufwendig restauriert. Ringsherum ein paar verstreute Lärchen, ein lauschiges Plätzen zum Verweilen.
Am Colle della Cialmetta folgt man dem Wegweiser Richtung Viù, auf einer wunderschönen Mulattiera geht es nun entlang von Trockensteinmauern durch schattigen Wald abwärts. Nach einer Stunde erreicht man die Fontana di Laiolo, ein sprudelnder Brunnen auf einer kleinen Lichtung. Hier endet eine unbefestigter Fahrweg, der wenig später in eine asphaltierte Strasse mündet. Auf dieser in Kürze hinab in den Ortsteil Molartissier, der verbleibende Abstieg bis zum grossen Dorfplatz von Viù ist identisch mit dem Aufstiegsweg.
- April bis November
- T2/T3
- 5 Std.
- Höhenunterschied: ca. 570 m
- Ausgangs- und Endpunkt: Viù (785 m) - Piazza Vittorio Veneto
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